Karwoche 2006
Impressionen einer Reise zu den Roma in Rumänien von Gernot Haupt

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Dienstag, 11. April 2006

Um 9:30 Uhr fahre ich mit M. und R. nach P. Leider hat R. nur bis maximal 14:00 Uhr Zeit, also müssen wir um 13:00 Uhr bereits wieder in P. abfahren, um rechtzeitig in Timisoara zurück zu sein. R. ist Geschäftsführer des Nachtasyls. Pater Berno hat die Bewilligung von Renovabis erhalten, die Jugendfarm in Bacova auszubauen, also werden die „alten“ Bewohner und die Frauen mit Kindern demnächst nach Bacova übersiedeln.

Ich erkläre R. unterwegs ein wenig das Projekt. In P. erwartet uns Frau C. am Hauptplatz und wir gehen gemeinsam ins Bürgermeisteramt, das heißt, vorbei an Schiebetruhen in den Keller, wo sich das Wahllokal befindet und wo wir uns bei mitgebrachten Keksen und einem Kaffee, den uns die Sekretärin der Bürgermeisterin bringt, unterhalten können. Kurz nach unserem Eintreffen kommt auch Th., der neue Mitarbeiter. Im Laufe des Gespräches stellt er sich vor:

Er ist 30 Jahre alt und hat drei Kinder. Er hat das Gymnasium mit dem Schwerpunkt Mathematik und Physik abgeschlossen, dann ein Jahr an der Universität Sozialarbeit studiert, musste dies aber wegen Geldmangels abbrechen, hat dann als Aushilfslehrer in Freidorf und einige Monate als Arbeiter bei Zoppas gearbeitet. Er ist Präsident der „Allianza pentru Unitatea Romilor“ (Allianz für die Einheit der Roma), einer Organisation, die es seit einigen Wochen in P. gibt und die eine Zone von 50 km2 betreuen wird, also bis Timisoara auf der einen Seite und bis zur Grenze auf der anderen Seite. Dieser Verein ist gleichzeitig Mitglied der „Associatia social-culturale a Romilor din Banat“ (Sozio-kulturelle Vereinigung der Roma des Banat). Ziel dieser Organisation ist es, kulturelle Aktivitäten zu setzen, z. C. einen Ball zu organisieren. Nach Ostern wird eine große Roma-Feier im Kulturhaus in Pe. stattfinden. Die Organisation versteht sich als Interessensvertretung der Roma gegenüber der Gemeinde. Er hat mit der Bürgermeisterin vereinbart, dass sie ein Büro im Kulturhaus bekommen, das sie für die symbolische Summe von 25.000 alte Lei (0,75 €) pro Monat auf fünf Jahre gemietet haben.

Geplant ist, dass die traditionelle Kunst des Ziegelbrennens wiederbelebt wird und dass die Roma vom Bürgermeisteramt das Holz erhalten, damit für jede Familie zumindest ein Raum selbst gebaut werden kann. Derzeit sind die Häuser der Roma nicht im Stadtplan verzeichnet, nur vier Häuser scheinen offiziell auf, die anderen sind von den Kindern oder Geschwistern auf dem Grund rund um das Haus illegal errichtet worden. Geplant ist auch ein Stromanschluss für jedes Häuser. Nach dem Gesetz 430 soll im Bürgermeisteramt ein Büro mit EU-Finanzierung entstehen. Nächstes Jahr wird auch die Associatie Nationale in P. tagen. Außerdem soll eine eigene Schule für Roma-Kinder entstehen, in der auch muttersprachlicher Unterricht erteilt wird. Th. erklärt, dass die Roma untereinander immer noch Romanes sprechen. Er kennt Calin Rus vom Interkulturellen Zentrum in Timisoara wie ich sehr gut und arbeitet intensiv mit ihm zusammen.

In Pe. sind 48% der Schulkinder Roma-Kinder. In P. besuchen nur ca. 40% der Roma-Kinder die Schule. In Familien mit vier Kindern gehen maximal zwei Kinder in die Schule.
15 Kinder müssten in die Sonderschule nach Timisoara gehen, wenn die Kommission dies beschließt. Das kann auch gegen den Willen der Eltern passieren, da das rumänische Gesetz die Schulpflicht vorsieht, aber de facto kann nichts dagegen unternommen werden, wenn die Eltern die Kinder nicht nach Timisoara ins Internat geben. Dieses Internat kann wöchentliche oder monatliche Heimkehr der Kinder ermöglichen.

M., unser Freund vom Jugendamt, hat mit der Rudolf-Walter-Stiftung vereinbart, dass ein Platz für einen 18-Jährigen zur Ausbildung frei steht und bietet an, dass eine geeignete Person dafür gesucht werden soll. Frau C. erzählt, dass sie für 60 Kinder Gratis-Schulsachen organisiert hat. Sie zeigt mir auch die Aufzeichnungen, die sie über die Familien gemacht hat. Sie legt mit sauberster Handschrift eine Seite über die Familie an, in der sie gearbeitet hat. Für jede Person in dieser Familie wird ein eigenes Blatt angelegt, auf dem die entsprechenden Dokumente (Geburtsurkunden, Heiratsurkunden, Meldezettel usw.) vermerkt sind, die bereits organisiert wurden. Ich rege an, dass bei den erledigten Dokumenten auch das Datum vermerkt wird, wann diese übergeben wurden.

Frau C., die früher Leiterin des staatlichen Kinderheimes war, erklärt uns den Zuwachs an Anfragen um Papiere damit, dass sie nun in Pension ist und die Roma keine Angst mehr haben, dass ihnen die Kinder abgenommen werden, wenn sie registriert sind. Sie wünscht sich, mit Th. zusammenzuarbeiten, und schlägt vor, dass er mindestens eine halbe Anstellung bekommt, da so viel Arbeit zu erledigen sei. Ich stimme dem zu.

Anschließend gehen wir ins „teren“, ins Feld.

Frau C. führt uns in ein Haus, das der Gemeinde gehört. Wir gehen über den Hof, ich muss mich mehrmals bücken, da Stricke gespannt sind, auf denen aber keine Wäsche hängt. Wir betreten ein Haus, es kommt uns ein junges Mädchen entgegen, das Fr. C. offenbar kennt. Sie umarmen sich, Fr. C. erklärt uns, dass das Mädchen bei ihr im Kinderhaus gewohnt hat.

Wir sitzen in einem Raum mit drei Betten, hier leben vier Personen, es gibt einen Kasten, keinen Tisch, einen Sessel. Der Holzboden ist mit Teppichen ausgelegt, die Frau, der Mann und das Mädchen ziehen ihr Schuhe draußen aus, ich auch, auch Frau C. zieht ihre Schuhe aus, M. und Th. nicht, als sie später dazu kommen. Der Plafond ist mit Wasserflecken überzogen, man sagt uns, dass das Dach kaputt ist und dass es hereinregnet. Quer im Raum hängt eine Wäscheleine, daran eine Damenunterhose, niemand stört sich daran, dass sie über unserem Kopf baumelt, während wir auf dem Bett sitzen, denn Sessel oder Tisch gibt es nicht. Die Frau bedrängt Frau C. mit Fahrkarten, die sie bezahlt haben möchte. Sie hat ihren kranken Schwiegervater im Krankenhaus in Timisoara besucht, Frau C. unterstützt sie, aber M. und ich müssen das Ansuchen ablehnen, da Reisen nicht bezahlt werden können, weil Einzelfallhilfe nicht primäres Ziel des Projektes sind.

Der Mann der Familie kommt etwas später und betont, dass Frau C. ihnen Geburtsurkunden und Heiratsurkunden besorgt hat. Er hat einen roten Ausschlag im Gesicht und sollte sich behandeln lassen, aber er kann nicht, weil sonst sein Einkommen als Tagelöhner für die Familie ausfällt. Er verdient 200.000 Lei (5,70 €) am Tag, aber leider findet er nicht jeden Tag Arbeit. Wenn jemand mehr als die Sozialhilfe von 850.000 Lei (24,20 €) im Monat verdient, wird ihm die Sozialhilfe gestrichen. Der Euro wird derzeit bei ca. 35.000 Lei getauscht.

Wir gehen weiter ins nächste Zimmer. Es ist etwas größer, es gibt keine Teppiche auf den rohen Holzbalken, in der Ecke ist ein Herd, auf dem ein Topf vor sich hinkocht. Dort wartet eine junge Frau auf uns. Es gibt vier Betten und ein Gitterbett, in dem das behinderte Kind schläft. An der vorderen Längsseite ist ein zusätzlicher Querbalken angebracht, der mit Filz und Stoffresten umwickelt ist, offenbar um Verletzungen zu verhindern, wenn sich das Kind an den Gitterstäben hochzieht und zu stehen versucht. Es ist blind und kann nicht gehen. Lange wird darüber diskutiert, wer für den Transport ins Krankenhaus zahlen muss, da eine neue Untersuchung der Augen notwendig ist. M. erklärt, dass die Gemeinde für den Transport aufkommen muss, dass aber nach seinen Informationen aus dem Krankenakt eine Operation des Kindes diesem das Augenlicht nicht wieder zurückbringen würde. Der Ehemann der jungen Frau ist für fünf Jahre im Gefängnis. Den Grund habe ich mich nicht zu erfragen getraut. Frau C. sagt zur jungen Frau, dass sie bestätigen soll, von ihr Ausweise erhalten zu haben, diese tut so, als wüsste sie nichts davon, Frau C. streicht ihr über die Wangen, was sie sagt, wird nicht übersetzt. Ich verabschiede mich.

Ganz ähnlich im nächsten Zimmer. Hier wohnen acht Personen mit der Großmutter. Es gibt aber nur fünf Betten. Sechs Kinder hat die Familie, drei gehen in die Schule, drei nicht. Ein kleines Mädchen steht mit der Schultasche am Rücken und mit großen Augen in der Mitte des Raumes. Auf die Frage, warum die anderen Kinder nicht in die Schule gehen, sagen sie, eines sei zu jung, eines wolle nicht mehr und eines sei leicht behindert und müsste in die Sonderschule.

Auf dem Weg nach draußen frage ich R. nach dem Wasseranschluss. Es gäbe Trinkwasser an der Außenseite des Hauses. R. sagt, dass er es schade findet, dass sie im Garten nicht etwas anbauen. Es stimmt, der Garten ist eine einzige Lehm- und Müllhalde.

Th. bleibt zurück, wir lassen Frau C. in Pe. aussteigen und vereinbaren, dass ich morgen zurückkomme und sie um 9:45 Uhr vor der Kirche abhole.

Nach unserer Rückkehr nach Timisoara lege ich mich kurz ins Bett, um die Eindrücke zu verarbeiten. Kurz darauf schlafe ich ein, vielleicht sind solche Bilder nur im Traum zu bewältigen.

Am Nachmittag suche ich in einer Buchhandlung nach dem Buch von Viorel Achim mit den Dokumenten über die Deportation von Zigeunern nach Transnistrien. Zu meiner großen Überraschung ist es in einer Buchhandlung tatsächlich lagernd. Ich setze mich in ein Restaurant am Hauptplatz, Piazza de Libertate, vor der Oper. Ein kleines Mädchen, keine zwölf Jahre alt, kommt vorbei und bettelt. Der Kellner scheucht es weg, es läuft ein paar Schritte, dann kommt es wieder. Ein anderes Mädchen, dem ein Arm fehlt, kommt betteln. Zwei junge Frauen am Nachbartisch geben ein wenig Kleingeld. Als sie zahlen und gehen, sehe ich, dass eine von den beiden auf Krücken geht. Haben die Menschen deshalb kein Mitleid mit Roma, weil sie nicht ein ähnliches Leid erfahren haben?

Ich blättere ein wenig im Dokumentenband und finde auch bekannte Namen von Dörfern aus dem Kreis Timis, Peciu Nou z.B., ein Dorf ganz in der Nähe. Aus all diesen Dörfern wurden Roma unter Antonescu nach Transnistrien deportiert. Und ich lese, dass es eine regelrechte Panik unter den Roma gegeben hat, dass die Deportation nicht nur einige von ihnen betreffen könnte, sondern dass die Aktion auf alle ausgedehnt werden könnte. Und ich lese, dass die lokalen Behörden die Deportation dazu benutzt haben, um die verbliebenen „Zigeuner“ unter Druck zu setzen, dass die Schwaben Gerüchte von der totalen Umsiedlung der „Zigeuner“ in Umlauf setzten, dass sie angekündigt haben, die frei werdenden Gebiete würden mit Deutschen aus dem Altreich besetzt. Was muss diese Erfahrung im kollektiven Gedächtnis der Roma hinterlassen haben? Das muss ein wichtiger Teil in meinem Frageraster werden.

Am Abend gibt es Sarmale mit Mamaliga bei M. und L. Und als Nachspeise Omeletten mit Schokolade und Schlag.

 
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